Roman Seelenbrandt Shortstory


Der Ausstieg

Teil 1


Bei mir war niemand, als ich an dieser Tür stand, und ich keine Ahnung hatte was mich dort hinter Erwarten würde. Also zögerte ich einen Augenblick lang, bevor ich den Türknauf herum drehte, ich hielt diesen Knauf sehr angespannt fest, ich spürte das mir noch nie eine Entscheidung so schwer fiel, wie diese, ich war mit mir und meinen Gedanken ganz alleine, mir war so als könne ich in mich hinein gehen, es war ein Augenblick in dem ich mich zum ersten Mal selbst gespürt und verstanden habe, denn es war ein sehr intensiver Moment, ich dachte nach, fragte mich ist es richtig was ich mache, soll ich alles hinter mir lassen, und nicht weiter fragen, wen ich mit meinen Weggang verletze, warum ich nicht mehr zu euch stehe, einer Zukunft mit euch nicht mehr entgegensehe, mich dieser nicht stellen mag, weil alles was ich heute fühle, bedeutet das ich nichts mehr von euch verlange, ich habe sehr oft nach eurer Hand gesucht, doch ich traf auf Fäuste die mich niederschlugen und bluten ließen. Ihr habt mein Vertrauen missbraucht, der glaube an euch ist auf den Nullpunkt, wenn ich nichts an dieser Situation verändere, glaube ich mir selbst nicht mehr, denn ihr stellt für mich nach all der Zeit, Menschen da, mit denen ich nicht mehr zusammen sein kann, weil ich mich sonst selbst betrüge, in all meinen Überlegungen sagte ich mir das es besser ist in Ehre etwas sein zu lassen oder zu versagen als jemanden Erfolg in seinem Unglück vorzugaukeln.

Denn alles was von euch zu mir dringt, fühlt sich an wie eine Lüge. In all der Kälte die mich seit geraumer Zeit umgibt, verlor ich die Liebe zu euch, das Gefühl zu euch zu gehören, war ein unwohliges Behagen. Ich trug einige Narben in eurer Gesellschaft als euer Sohn, Bruder, Freund oder Kollege davon, und es wird Zeit mich etwas zu schonen, irgendwo neu anzufangen und zu regenerieren. Das Gefühl und Vertrauen zu fremden Menschen wieder aufbauen, wird schwer genug, denn wenn es erstmal schwindet wird der Bruch, zu einer Art Wahnvorstellung, man fühlt sich verfolgt, und hintergegangen nachgestellt und belächelt, egal wo und von welcher Menschen Seele. Ich fühle mich einsam unter euch, doch der Mensch ist ein Gesellschaftstier, alleine ist er nicht viel Wert, er lebt vom Geben und nehmen, doch bei euch lass ich nur Federn. Wir waren in all den Jahren viele Zeiten zusammen gute und schlechte Sonnen und Regentage, doch war unsere Ideologie die Wahrheit, waren wir ehrlich zueinander, kamen wir wirklich gut klar? Für uns war es normal in all den Tagen, die wir verbrachten, doch irgendwann stellt sich eine hinterfragende Haltung ein, bin ich glücklich mit euch, mach ich mir etwas vor wenn ich euch hinterher laufe? Ja, denn ich fühlte mich nicht als Mitmensch sondern Mitläufer, einer der sich für euch aufgab, doch nichts dafür zurück bekam.

Deshalb stehe ich heute hier vor dieser Tür, die ins ungewisse führt, doch wenn man sich wie ich schuldig fühlt, ist es besser man geht, denn im Gegensatz zu euch bewahre ich mich selber vor dem Verrat, den ihr für unseren Kult übrig habt, mein Charakter hat mich hierher geführt und vor diese Frage gestellt. Ich klage euch an, doch auch an mir lasse ich kein gutes Wort hängen, denn viel zu lange, habe ich weggesehen und ignoriert, was mich in meinem inneren berührt, ich bin auch nicht ohne Fehler, werde es auch niemals sein, doch in meinen Ansichten zu bestimmten Dingen und Situationen, bin ich evident, doch ich habe euch in unserer Grundhaltung, des Kultes den wir glaubten verkannt, ich werde meine Überzeugung mit euch nicht mehr teilen, denn eure Gesellschaft hat mich lügen gestraft, mit euch mach ich Fehler die mit meiner Mentalität nicht vereinbar sind, darum wähle ich diesen Weg, zu der Tür, hinter der das ungewisse liegt! Während ich weiterhin den Türknauf, festhielt, als würde mich der Sturm wegwehen, spürte ich wie meine Hände schwitzen, mein Herz rannte, meine Gedanken rasen, mir ist nicht bewusst was diese Entscheidung für mich bedeutet, das Ausmaß ist nicht abzusehen, denn plötzlich ganz alleine da zu stehen, mit nur einem Monatslohn auskommen, mein jetziges Chaos aufzugeben, in einer fremden Stadt zu leben, meine Desorganisation um ein vielfaches zu verschärfen, wird mich erstmal noch weiter in meinem Frieden zurückwerfen.

Ich bin Lebens unerfahren, Gänge zu Behörden sind mir ein Graus, Hilfe nehm ich ungern und kaum an. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, ob ich mich jemals von diesem Schritt durch diese Tür erholen kann, ich hatte kein Plan kein Konzept, es war eine Kurzschluss Entscheidung, denn als ich den Tag aufstand und vor dieser Tür stand, war zum ersten mal mein Widerstand gebrochen, ich dachte oft darüber nach zu gehen, doch damals mit einer Expose, diese sind jedoch alle in diesem Augenblick flüchtig geworden. Ich hatte Angst davor und dennoch war der Drang mich zu befreien eine stärkere Dimension, alles was ich will, kann mir dieser Ort nicht mehr bieten, und wenn ich ehrlich bin konnte er es noch nie, deshalb wird es Zeit für mich zu fliehen. Ich schaute zurück in das Zimmer aus dem ich kam, und 12 Jahre in einer Wohngemeinschaft in ihm lebte, schloss einen kurzen Augenblick meine Augen, atmete tief durch und spürte das ich den Türknauf drehte, ich hatte keinen Schlüssel in der Tasche, keinen Abschiedsbrief geschrieben, nichts bei mir, außer das was ich mir angezogen habe, und meine EC-Karte.

Der Türknauf entriegelte, das Türschloss, die Tür stand ein Spalt auf, ein kühler Wind in den letzten warmen Sommertagen, zog unerwartet an mir vorbei, und nahm mir all die bösen Gedanken, vom Versagen hinter mir die Fotos an einer Pinnwand von den Tagen an denen ich glaubte das ich Glücklich war, ich griff zu dem Bild meiner Freundin, streichte ihr Gedanklich durch das Haar auf dem Foto, doch ich nahm es nicht mit und zog hinter mir die Tür zu. Ich war draußen im Flur getrennt, von einem sicheren Heim, hinter mir und nur ein Schritt entfernt von der absoluten Chaoswelt. Auf dem Weg aus dem dritten Stock, die Treppe hinunter, fühlte ich mich erleichtert es war warm an diesem Tag, die Depressionen wären größer, wäre es draußen kälter. Dennoch fühle ich mich irgendwie niedergeschlagen, meine Zukunft stellt mir innerhalb Bruchteilen einer Sekunde tausend fragen, mir ist schwindelig, fühle mich kaum anwesend. Als würde ich ins leere gehen, ein beklemmendes Gefühl in mir und doch frei von dem Zwang etwas vorspielen zu müssen. Natürlich spreche ich mich nicht davon frei diese Situation als furchterregend einzustufen, dafür bin ich zu angeschlagen und meine Wunden der vergangenen Tage sind nicht verheilt der Schmerz in mir sticht und unterkühlt jegliche Emotionen ich fühle das Blut in meinem Herzen schneller zirkulieren als unter normalen umständen, ich befinde mich in einer absoluten Stresssituation. Als ich Die Hauseingangstür öffnete, nahm ich nochmals ein tieferes durchatmen wahr, die strahlende Sonne, über den Dächern dieser grauen Stadt, hatte mir ein lächeln gezaubert, ich hörte viele Stimmen ohne sie wirklich einzeln und verständlich wahrzunehmen, darunter spielende Kinder beim Fußball fangen oder anderen Spielen, Motorengeräusche nah an mir und fern von mir fahrender Autos, zwitschernde Vögel und andere Naturklänge, es war ein Eindruck als würde ich die Straße zum ersten mal wirklich wahrnehmen, denn seien wir mal ehrlich, ich bin seit dieser Minute ohne bleibe, die Straße hat mich wieder , nicht wie damals als Punker, sondern jetzt auch meinen Körper. Ich möchte nicht sagen das ich den Geruch der Straße kenne, denn auf Platte war ich noch nie, dennoch sind mir solche Menschen vertraut, ich war, nein bin, im Herzen gerne Punker, und viele meiner Weggefährten wählten den Weg, auf der Straße zu leben, Häuser zu besetzen, oder im Winter in Notunterkünften zu übernachten.

Ich habe heute noch einige Bekannte die es nie wieder geschafft haben ein als Erwachsener heute geregeltes Leben zu führen, manche wollen es auch gar nicht. Viele fühlen sich wohl als Punker, deren Kult im großen und ganzen besagt, dass man sich von der Gesellschaft entsagt, die Dazugehörigkeit ablehnt oder einfach etwas abgehobener lebt, da gehört Platte machen eben auch dazu. Wie gesagt bin ich selbst unerfahren auf der Strasse, wenn ich auch schon Nächte lang in ihr verbracht habe, so hatte ich doch immer im Hintergrund meine Heime. Es gab Sommer in denen ich auch mein Zuhause nur zum Zähneputzen fand, ansonsten ging es mit dem Zug durchs ganze Land. Hier ein See, da ne Party, dort ein Konzert, Ferien und Urlaub, bedeutet in meinem Leben immer so etwas wie Freiheit, zumindest in gesteigerter Form fühlbarer, als im Job oder der Schule. Ich hatte also nicht direkt Angst davor, weil das Wetter wie gesagt noch gut war, das nahm mir die Frustration, über meine beschissene Gesamtsituation, dennoch war es ein wenig beruhigendes Gefühl, ich hatte ja noch meinen Job, dem ich ab heute fernbleibe, somit entfällt mein Anspruch auf Arbeitslosengeld 3 Monate, meine Krankenversichertenkarte, den Sozialversichertenausweis die anderen Papiere und auch mein Personalausweis, habe ich nicht bei mir, die beiden Ausweise trägt meine Freundin bei sich, seit meinen letzten Arzt besuch, irgendwann im Winter vor 2 Jahren.

Ich kann mich also nicht ausweisen, dieser Gedanke macht mir schon Bange. Ich fühle mich für diesen Augenblick verstorben weil ich gesetzlich gesehen keine Identität habe, ich weiß nicht was zu tun ist, bei diesem Stand der Dinge, zumal ich davon sprach das Behörden und Bürokratie nicht unbedingt zu mir und meiner Philosophie gehören. Ich muss auf jeden Fall in 2 Monaten eine passende bleibe gefunden haben, denn der Winter hier draußen ist mir dann doch zu hart, ich wüsste nicht ob ich den überleben würde, weil ich doch recht unbeholfen bin und das Chaos förmlich anziehe, oder besser verursache. Ich zog mir meine beige Baseball Cappy von Uncle Sam, die von einigen Pins mit Sprüchen , Sicherheitsnadeln und mit einem schwarzen Edding Ölstift zu gemalt war auf, und machte mich in Richtung Bushaltestelle, Kurt-Schumacher Ring, von dort aus wollte ich mit dem nächsten Bus, Richtung Innenstadt fahren,um zu sehen ob ich noch den ein oder anderen für Dope ansprechen kann. Vorbei am Bolzplatz ecke Julius Leber Strasse, am Jugendzentrum vorbei, wo ich viele Tage meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, kam ich zu dem Kiosk, wo ich noch 12 Euro offen hatte, wir kannten den Besitzer gut, und konnten bei ihm immer anschreiben lassen,wenn wir kein Kleingeld für ein Bier hatten, oder überhaupt nicht flüssig waren, jedenfalls hörte ich den Besitzer schon von fernen Brüllen, Ey Lusche, ran hier, mit seiner doch nervigen lauten Marktschreier ähnlichen Stimme, glaubte ich immer der olle Jürgen könnte genauso gut aus Hamburg kommen. Ich schätze ihn auf Anfang bis Mitte 50 sehr korpulent, meine Freunde sagten immer Jürgen die Fettsau, ich hielt mich damit meistens etwas zurück, konnte es mir aber auch nicht verkneifen, ihn im Sommer wie Winter oder zu Sylvester mit Wasserbomben zu beschmeißen.

Der olle Jürgen hatte es nicht leicht mit uns, dennoch musste ich jetzt zu ihm als Kunde, ich brauchte noch Zigaretten, und kaufte mir bei ihm eine Stange Lucky Strike, ich hab versucht ihm das Geld, auf den Cent genau auszugeben, damit ich versuchen kann die 12 Euro die ich Kredit bei ihm habe, ihm abzuziehen, heißt also, mich ohne diesen offen Betrag auszugleichen aus den Staub zu machen, aber der Olle Jürgen fiel nicht darauf herein, denn aus meinen Portmonee schaute beim Bezahlen noch ein anderer 20 Euro schein. Also glich ich den Betrag aus und von den restlichen 8 Euro des angebrochenen 20 Euro schein kaufte ich mir 2 belegte Käsebrötchen mit Remoulade und frischen Salat, sowie ne bunte Tüte süßer Leckereien. Ich unterhielt mich noch 2-3 Minuten mit dem ollen Hund von Jürgen, der wie immer angekettet, am Langnese Fahrradständer angeleint war, was zu lustig ist, denn wenn der Hund durchdrehte rannte er immer mit dem blechernen Mobilen Fahrradständer los, klar das wir ihn gerne provozierten damit Jürgen ein zuviel kriegte. Kurios also das Jürgen vermutlich der einzige Mensch meines bisherigen Lebens, sein wird, der ein Tschüss von mir hört, auch wenn er nicht Weiss das es ein Abschied für immer ist, wird kein anderer von mir ein Tschüss bekommen, nicht weil ich es so Plane, sondern weil mir meine Kurzschlussreaktion an diesem Morgen, keine andere Wahl lässt, die Kumpels mit denen ich so abhänge sind entweder Arbeiten, noch am Pennen, oder eben hier irgendwo auf der Straße am streunen, meine Freundin, ist derzeit sowieso nicht in der Stadt, die ist bei ihrer Mutter in Braunschweig, ein Ort der 30 Kilometer entfernt liegt von meiner Heimat. Ich wollte niemanden tschüss sagen, das würde nach Mitleid aussehen, es ist gut so wie es ist, auch wenn es mir um meine Freundin sicherlich leid tut, da ich die ganzen Jahre das Gefühl hatte sie war die einzige die wirklich immer zu mir stand, deren Gedanken meinen sehr ähnlich sind und gleichen, hat sie solch einen Abschied nicht verdient, da ich mich gewiss wohl mit ihr fühle und zum ersten Mal in meinem Leben geliebt sehe.

Doch es muss sein, ein Abschied wäre schwer für mich denn wenn ich ein letztes Mal in ihre Augen blicken würde, würde ich vermutlich weinen, ihre Schönheit rührte mich vorhin schon auf dem Foto zu Tränen. Nachdem ich mit Jürgen fertig geklönt hatte, machte ich mich auf die gut letzten 500 Meter bis zur Bushaltestelle, ich aß mein Brötchen und mir ging es eine kurze Weile richtig gut, ich fühlte mich frei von allen Sorgen so als wenn ich an nichts dachte, sondern mich einfach in der Leere und im Nichts bewegte. So muss sich Freiheit anfühlen, einfach nur Atmen, kein Gedanke der Dich quält, keine Sorgen die Dich grämen und keine Ängste die Dich fürchten lassen, Du spürst weder zu lieben noch zu hassen, als würdest Du nichts empfinden, kein schmerz Gefühl das Dich ereilt, glaubte ich sogar einen Augenblick taub und Blind zu sein, weil ich einfach in meinen träumen spazieren ging. Die Psyche ist im altgriechischen ein anderes Wort für Atmen, Hauchen, sie umschrieb in der damaligen Zeit, ganze Personen und galt als das vollkommene, kostbarste überhaupt, habe ich mal so ähnlich, irgendwo gelesen, wenn dem so ist, war meine Seele diesen kurzen Moment frei, und es war ein schönes Gefühl, ein Augenblick der leider viel zu kurz andauerte. Denn kurzum bekam mich wieder ein beängstigendes Gefühl, aber dennoch willenstark genug diesen Weg jetzt zu gehen.

Ich musste an der Bushaltestelle nicht lange auf den Bus warten, der fährt bei uns alle 20 Minuten, vom Kiosk bis hier her, weiß ich wiegesagt nicht wie ich hergekommen bin, da ich so vertieft in meiner Leere war, das mich wohl das Unterbewusstsein hergeführt hat, vielleicht hält dieses ein gutes Zeichen für mich parat. Zum Glück war der Bus gähnend leer, nur zwei ältere Damen saßen auf der Bank hinter dem Fahrer, ich nahm gemütlich in der letzten Reihe Platz und fuhr Richtung Innenstadt.